6 Wahrnehmungsbesonderheiten, 6.1 sensorische Probleme II

6.1.4 Druck und Berührung



Gleichmäßiger Druck



Gunilla Gerland: Ein richtiger Mensch sein, Verlag Freies Geistesleben: (...) Meine Schwester lag mit angezogenen Knien auf dem Rücken, und ich hing, mit ihren Knien gegen meinen Bauch, über ihr und versuchte ihre Nase zu berühren. Dieses Spiel gefiel mir, weil es so überschaubar war, ich beherrschte die Regeln und begriff, worauf es hinauslief. Aber ich mochte es auch, weil eine Art von körperlicher Berührung damit verbunden war, die ich bewältigen konnte – ein gleichmäßiger Druck gegen eine große Körperoberfläche. Umgekehrt, das heißt mit mir zuunterst, konnten wir das Spiel nicht spielen, da jede nur leichte Berührung mir unerträglich war. (S.42)

6.1.5 Gesichtsblindheit



Leere Gesichter



Gunilla Gerland: Ein richtiger Mensch sein, Verlag Freies Geistesleben: (...) Jeder, den ich nicht gut kannte, hatte ein leeres Gesicht. Bis auf meine Angehörigen traf das also mehr oder weniger auf alle Menschen zu. Mir war nicht klar, dass diese leeren Gesichter auch Menschen waren. (…) Diese leeren Gesichter besaßen ebenso wenig Inhalt wie Möbel, und ich glaubte, dass sie, genau wie Möbel, in die jeweiligen Zimmer hineingehörten, wo ich sie sah. (…) wenn ich eine Person, die ich nicht kannte, zuerst in einem und dann in einem anderen Zimmer sah, hielt ich es nicht für möglich, dass dies ein und dieselbe Person war. (S. 72/73)





Im Beruf



Dr. Christine Preißmann: ..und dass jeden Tag Weihnachten wär. Weidler Buchverlag:

(...) Ich habe ein recht gutes Gedächtnis für Zahlen- und Buchstabenkombinationen. So kann ich mir schnell Autokennzeichen oder Telefonnummern merken. In der Klinik ist es oft so, dass ich mich zwar nicht an das Aussehen eines ehemaligen Patienten erinnere, aber seine Telefonnummer oder sein Geburtsdatum noch im Kopf habe. Das erstaunt dann die Mitarbeiter und befremdet sie wohl manchmal auch etwas. (S.71)





6.1.6 Wahrnehmung von Richtung und Bewegung



Im Straßenverkehr



Gunilla Gerland: Ein richtiger Mensch sein, Verlag Freies Geistesleben: (...) Immer, wenn ich ohne Hilfe einer Ampel eine Straße überqueren musste, benötigte ich meine äußerste Konzentration, um abschätzen zu können, wie weit entfernt die Autos waren und mit welcher Geschwindigkeit sie auf mich zukamen. Oft blieb ich so lange stehen, bis weit und breit kein Auto zu sehen war. Wenn möglich, wartete ich, bis ein anderer Passant die Straße überquerte, und verließ mich ganz auf dessen Urteil. (S.228)





Geräusche orten



Susanne Schäfer: Sterne, Äpfel und rundes Glas, Verlag Freies Geistesleben: (...) Ich höre viel zu empfindlich, kann jedoch kaum sagen, wie nahe ein Geräusch ist oder aus welcher Richtung es kommt. Manchmal laufe ich im Treppenhaus herum, um herauszufinden, woher der Lärm kommt. Wenn ich das weiß, ist es ein bisschen leichter zu ertragen. Manchmal klingt es, als sei die Lärmquelle unmittelbar vor meinem Fenster, und wenn ich dann sehe, dass die Leute unten auf der Straße sind, dann ist es nicht mehr so schlimm. (S.126/127)







6.1.7 Weitere Wahrnehmungsprobleme



Vestibulärsinn / Gleichgewicht:



Dianas Aspergerseite: (...) Eigentlich habe ich ein gutes Gleichgewicht, habe auch unermüdlich das Balancieren geübt als Kind, kann extrem lange auf einem Bein stehen - einzig: wenn ich die Augen schließe, scheint mein Gleichgewichtssinn sich augenblicklich zu verabschieden.

Propriozeption / Eigenwahrnehmung: Oft 'vergesse' ich, dass meine Hand irgendwo aufliegt und habe vielmehr das Gefühl, sie schwebe in leerer Luft. Auch meine Füße beim Laufen haben nicht immer die Position zueinander, die ich 'erfühle' - sie können einen völlig anderen Winkel einnehmen, als ich glaube dass sie haben.

Interozeption / Innenwahrnehmung: Hunger- und Durstgefühl kann ich verwechseln. Es kann sogar sein, dass ich aufs Klo renne, und in Wirklichkeit habe ich Durst. Oder aber ich trinke etwas, im Glauben ich sei durstig, in Wirklichkeit bin ich nur müde.

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6.1.8 Reizüberflutung / Overload










Overload mit unterschiedlichen Auswirkungen



Dianas Aspergerseite: (...) Bei mir gibt es zwei verschiedene Möglichkeiten, wie sich ein Overload reaktionsmäßig ausdrückt:

Entweder stereotyp und hyperaktiv, das ist die harmlosere aber auffälligere Variante. Oder mit Rückzug von der Welt, Sprache verlieren, meist noch Panik, das ist die grauenhafte Variante.

Ausgelöst wird ein Overload beispielsweise durch laute Dauergeräusche, überall um mich herum durcheinandergehende Gesprächsfetzen, Lichtflackern, viele Menschen, etc.

sowie auch oft durch harmlos scheinende Fragen oder Bemerkungen an mich, die dann ein inneres Chaos auslösen können, aus dem mein Hirn keinen Ausweg findet - letzteres, nämlich die Erwartungshaltung der Menschen ist es, was meistens die grauenhafte Variante auslöst, während 'rein' sensorischer Overload ohne emotionale Druckkomponente oft nur die harmlosere Variante auslöst.

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Overload Typ I - stereotyp und hyperaktiv - harmlos aber auffällig

Dianas Aspergerseite: (...) die sensorischen Reize hämmern auf mein Gehirn ein, durchschlagen den absoluten Filter und ich versuche alle Reize abzublocken - durch Augen schließen, Ohren verstopfen etc.. Aus irgendeinem Grunde werde ich total unruhig und fange an mit den Händen zu flattern, zu schaukeln, mit den Füßen zu zappeln, herumzugehen, auf Gegenstände zu klopfen, Körperteile zu beklopfen, manchmal sogar Schmerzreize zufügen etc.. Der Energielevel steigt immer weiter an, und ich muss ihn abbauen. Die Stereotypien dienen in diesem Falle dazu, die akustischen und/oder visuellen Reize abzublocken und durch selbsterzeugte Alternativreize zu überlagern. Diese Alternativreize sind fast immer taktiler Natur - über die Haut aufgenommene Reize.

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Overload Typ II - Rückzug - Sprachverlust - Panik - grauenhafte Variante

Dianas Aspergerseite: (...) Die sensorischen Reize und/oder die Erwartungshaltung anderer, der emotionale Druck von innen, die Erwartungen zu erkennen und 'irgendwie' darauf eingehen zu können hämmern auf das gesamte Nervensystem ein, welches versucht einen Ausweg zu ermitteln. Schlussendlich bleibt ihm aber nur noch selbständig alle Reize abzublocken --> System Shutdown … Dies ist dann die Situation, dass ich die Sprache verliere, selbst wenn ich von innen heraus schreien wollte, es dringt nichts mehr durch. Manchmal war es schon so, dass ich noch fähig war, unter Überlistung meiner Selbst irgendwie ein paar Dinge aufzuschreiben. …Ich werde durch die Selbsterhaltungsmechanismen meines komischen Gehirns in tiefste Winkel meiner Selbst zurückgedrängt und dort festgehalten - weswegen auch oft noch Panik hinzukommt, denn es ist ein inneres abgeschottetes Gefängnis.

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Sabine Kiefner: Ich bin Autistin - Asperger Syndrom bei Frauen:


Overload



Ich muss lernen, im Alltag mehr auf mich zu achten.
Auf das Rauschen zu achten, welches sich häufig ankündigt.
Wie ein schweres Gewitter.
Das Rauschen achtet nicht auf mich.
Es beachtet mich nicht.
Es entsteht aus einem Zuviel an Anpassung.
Anpassung achtet auf andere, nicht auf mich.
Anpassung missachtet mein Sein.

Ich bin nicht ich selbst, wenn ich mich anpasse.
Ich achte nicht auf mein Fühlen, funktioniere nur.
Ich muss funktionieren.
Das Funktionieren entsteht im Kopf – nicht automatisch.
Alles Funktionieren muss immer wieder abgerufen werden.
Angepasst an eine Welt, in der ich eine Fremde bin.
Mein Anderssein muss angepasst werden.

Nicht-ich-sein.
Anders sein, um nicht anders zu sein.
Anders sein, um gleich zu sein.
Gleich zu sein, wie die anderen.
Aber ich bin nicht gleich.
Ich bin anders.
Ich möchte anders sein,
weil ich nur im Anderssein ich sein kann.
Ein Anders-Ich.

Ich muss auf mich achten.
Je mehr ich mich anpasse, desto weniger nehme ich mich wahr.
Das angepasste Ich schmerzt.
Der Schmerz kommt von einem Zuviel an Anpassung.
Einer Anpassung, die eigene Bedürfnisse ignoriert.
Das Anders-Ich ignoriert.
Mich ignoriert.

Der Schmerz trifft das Innen-Ich.
Ich spüre den Schmerz.
Ich spüre mich.
Ich spüre mein Sein.
Mit dem Schmerz kommt das Rauschen.
Alles Außen rauscht.
Außen ist alles.
Alles rauscht.
Die Worte der anderen
meine Gedankenworte.
Alles rauscht.
Wie ein verstellter Radiosender.
Laut und schmerzhaft
rauscht alles Außen.
Nicht abstellbares Rauschen.
Es gibt keinen Knopf,
um den Sender wieder einzustellen.
Das Leben ist kein Radio.
Das Rauschen bleibt.
Bleibt außen.

Ich muss innen bleiben.
In mir.
Nur Innen-Ich.
Kein Außen mehr.
Das Außen abschalten.
Das Rauschen abschalten
und den Schmerz.
Abschalten.

Ich muss abschalten.







Sabine Kiefner: Ich bin Autistin - Asperger Syndrom bei Frauen:




Großraumgespräche



Kein Wort findet den Weg aus meinem Innensein.
Wie eingesperrt ist alles in mir.
Erreicht das Außen nicht.
Meine Stimme gehorcht mir nicht.
Alles schreit in mir.
Überrennt mich. Erdrückt mich.
Will raus.

Aber ich bleibe stumm.

Ihre Worte sind Lärmknäuel.
Verwirrend. Laut. Fremd.
Ein Durcheinander an Silben,
die zusammenhängen
und auseinander gerissen werden.
Sie erreichen mein Innensein nicht.
Überrennen mich. Erdrücken mich.

Aber ich verstehe sie nicht.

Zuviel.
Innen und Außen.
Ich spüre mich nicht mehr.
Ich spüre meinen Körper nicht mehr.
Alles Erstarrt.
Ist taub.

Nur das Rasen im Kopf bleibt.






Schmecken (gustatorisch) / Riechen (Olfaktorisch):



Dianas Aspergerseite: (...) Mein Speiseplan ist limitiert - kein Kohl, keine Saucen, kein .... und an allem, was ich probiere, wird zuerst ausgiebig geschnuppert.

Fühlen (Taktil): Meine Haut ist unterschiedlich empfindlich. Umarmungen mag ich meist nicht. Wollpullover kann ich auf der Haut nicht ertragen, da wird ein glatterer Pulli druntergezogen. Schildchen in Klamotten entferne ich auch meist. Lege ich meine Hand auf das Knie - dann fühle ich entweder die Hand, oder aber das Knie - niemals beide zugleich.

Wärme-/Kälteempfinden: Wärme bzw. Hitze ertrage ich nicht gut. Kälte schon besser. Zeitweise habe ich überhaupt nie gefroren, und bin im Winter mit T-Shirt und Sandalen in die Schule gefahren. Abgesehen davon habe ich es irgendwie meistens geschafft, meinen Körper davon zu überzeugen, dass es gar nicht so kalt ist, dass ich frieren könnte - meist höre ich dann tatsächlich auf zu frieren. www.aspiana.de