6 Wahrnehmungsbesonderheiten, 6.1 Sensorische Probleme I


Hans Asperger: Heilpädagogik 1965: (...) Überempfindlichkeiten und krasse Unempfindlichkeiten stehen sich schroff gegenüber…Fast regelmäßig finden sich sehr differenzierte Zu- und Abneigungen auf dem Gebiete des Geschmackssinns: häufig ist eine besondere Vorliebe für stark saure oder gewürzte Speisen, …häufig eine nicht zu überwindende Abneigung gegen Gemüse und Milchspeisen. Etwas entsprechendes findet sich auch beim Tastsinn: eine bis zu abnormen Graden gehende Abneigung gegen bestimmte Berührungsempfindungen, etwa für Seide, Samt, Watte, Kreide; sie vertragen nicht die Rauhigkeit neuer Hemden, gestopfte Strümpfe; das Haar- und Nägelschneiden. ..Auch gegen Geräusche und Lärm sind diese Kinder oft kraß überempfindlich. (S.191)





6.1.1 Filterschwäche



Auf der Party



Dr. Christine Preißmann: ..und dass jeden Tag Weihnachten wär. Weidler Buchverlag: (...) ...manchmal wurde ich auch zu einer Party eingeladen. Das waren dann allerdings meist sehr schlimme Stunden, die ich dort verbrachte. Ich hatte das Gefühl, dass eine Party alle furchtbaren Aspekte des Lebens vereinte: Die Musik war immer zu laut, ich konnte nichts verstehen, wenn mich jemand ansprach. …Außerdem waren auf Partys zu viele Leute, und meistens war es recht dämmriges Licht, so dass ich Koordinations- und Gleichgewichtsprobleme hatte und oft mit anderen zusammenstieß. (S.88)





In der Schule



Gunilla Gerland: Ein richtiger Mensch sein, Verlag Freies Geistesleben: (...) Die Stimme der Lehrerin bildete in meinen Ohren den Hintergrund für die übrigen Laute – das Rascheln von Papier, das Scharren eines Stuhles, ein Husten. Die einzelnen Geräusche glitten ineinander über und vermischten sich. Ich konnte sie nicht ausschließen, um die Stimme der Lehrerin im Vordergrund wahrzunehmen. Wäre mir das, was sie sagte, interessant und wichtig erschienen, hätte ich die Eindrücke vielleicht bewusst sortieren können, um ihr zuzuhören. (S.106)





6.1.2 Unterempfindlichkeit



Unempfindliche Fußsohlen



Gunilla Gerland: Ein richtiger Mensch sein, Verlag Freies Geistesleben: (...) Auf meiner Körperkarte waren die Füße ein weißer Fleck. Obwohl es mir sonst schwer fiel, leichte Berührung zu ertragen, war ich im Unterschied zu vielen anderen an den Fußsohlen kein bisschen kitzlig. Auf den anderen Körperflächen versetzte leichte zarte Berührung mich in Erregung, spannte die Federn in meinem Innern an und wurde unerträglich. (S.16)





Schmerz bewusst fühlen



Axel Brauns: Buntschatten und Fledermäuse, Goldmann Verlag: (...) Dreimal täglich musste ich mit Hexenwasser gurgeln…Es brannte im Rachen und schmeckte buchstäblich bitter. Das Hexenwasser besaß aber noch eine weitere Eigenschaft. Es riss ein Gefühl in mir auf, das ich so nicht kannte. Ich gurgelte mit dem ekligen Zeug und verspürte zum Ausgleich Anwesenheit in Hals und Mund….Wenn Krankheit Besitz von mir ergriff, war das verstörend schön. Sie beschenkte mich mit Anwesenheit, wo ich sonst nur Abgeschiedenheit spürte. (S.203)





6.1.3 Überempfindlichkeit



Beeinträchtigung des Geschmacksinns



Gunilla Gerland: Ein richtiger Mensch sein, Verlag Freies Geistesleben: (...) Meine Zähne waren sehr empfindlich, und manche Speisen hatten eine Konsistenz, die sich im Mund unangenehm anfühlte und im ganzen Körper ein scheußliches Gefühl auslöste. Man wusste nie, was einem mit unbekanntem Essen passieren konnte. Auch wenn es ab und zu langweilig war, nur Wurst ohne Haut und Schokoladenpudding zu essen, war es das zweifelsohne wert. (S.15)



Berühren von Metall



Gunilla Gerland: Ein richtiger Mensch sein, Verlag Freies Geistesleben: (...) Seit ich mich erinnern konnte, flößte Schmuck mir Angst ein. Diese Angst umfasste auch Haarspangen und Knöpfe aus Metall. Das alles fand ich erschreckend, abscheulich und ekelhaft. Wenn ich gezwungen wurde, Schmuck anzufassen, vernahm ich einen schneidenden, pfeifenden metallischen Ton in den Ohren, und mir drehte sich der Magen um. Dieser Ton kroch mir erst wie elektrifiziert vom Steißbein aus die Wirbelsäule hoch, bevor er in den Ohren aufschrillte, mir die Kehle hinunter glitt und sich als Übelkeit im Magen niederließ. (S.60)



Textilien



Sabine Kiefner: Ich bin Autistin - Asperger Syndrom bei Frauen: Schon als Kind hatte ich Probleme mit Schlafanzügen oder Nachthemden. Die Nähte oder Hosengummis haben mich gestört, ebenso die Tatsache, dass der Stoff beim Schlafen Falten warf. Früher habe ich oft eine halbe Stunde gebraucht, bis ich den Schlafanzug oder das Nachthemd so glatt und stramm gezogen hatte, dass mich der Stoff nicht mehr störte und ich schlafen konnte. Heute trage ich meist eine bequeme Jogginghose und ein T-Shirt, das aber nicht zu lang und zu weit sein darf. Sonst würde es wieder Falten werfen, die mich beim Schlafen stören. Auch die Spannbetttücher werden von mir jeden Abend erst einmal glatt gezogen, bevor ich mich ins Bett lege.

Ebenso schlimm empfinde ich es, mehrere Kleidungsstücke (z.B. Strumpfhose und Hose) übereinander zu tragen. Das macht mich nervös.

Ich mag es auch nicht, Blusen oder T-Shirts in der Hose zu tragen. Das kitzelt, juckt und zwickt. Da wäre ich den ganzen Tag damit beschäftigt, den Stoff am Körper zu glätten und zurecht zu ziehen.





Bei der Haarpflege



Gunilla Gerland: Ein richtiger Mensch sein, Verlag Freies Geistesleben: (...) Als ich acht Jahre alt war entwickelte ich eine Überempfindlichkeit gegen Kämme und Haarbürsten. Ich sträubte mich dagegen, mich zu kämmen. Plötzlich konnte ich den Schmerz nicht ertragen, der beim Kämmen entstand. Es war, als würde auf dem ganzen Kopf und im Nacken ein synthetisches Feuer brennen. (S.114)







Sabine Kiefner: Ich bin Autistin - Asperger Syndrom bei Frauen:



Probealarm



Es war ein Vormittag wie jeder andere in der Woche.

Wie gewohnt arbeitete meine Mutter in der Küche, während ich in meinem Zimmer auf dem Boden saß und die bunten Holzbauklötze nach Farben und Größe sortierte.

Plötzlich war das Geräusch da.

Ein lauter, lang gezogener Ton, der in mein Innensein drang und sich schmerzhaft in meinem Kopf festsetzte. Ich steckte mir beide Zeigefinger in die Ohren und rannte aus dem Zimmer, wobei ich achtlos über die sortierten Bausteine stolperte und mit meinen Füßen das Farbreihenmuster zerstörte.

Der Ton folgte mir in die Küche, wo ich mich schreiend unter dem Tisch verkroch und dort mit den Fingern in den Ohren und leicht wippendem Oberkörper sitzen blieb.

Das Wippen beruhigte mich in gleicher Weise wie das tägliche mit dem Kopf Hin- und Herwühlen vor dem Einschlafen im Bett.

Unter dem Küchentisch – meiner Höhle – fühlte ich mich normalerweise in Sicherheit.

Aber vor dem fremden Geräusch gab es keinen Schutz.

Sirene“ nannte meine Mutter diesen eindringlichen Dauerton, der in meinem Kopf schmerzte und mir Angst machte.

Sie versuchte, mich zu trösten, in dem sie mit mir sprach und sich dabei bückte, bis ich ihr Gesicht unterhalb der Tischdecke sehen konnte.

Ich schaute auf meine Füße, ohne das Wippen zu unterbrechen und bohrte meine beiden Zeigefinger noch tiefer in die Ohren.

Ich wollte, dass dieses Geräusch sofort aufhörte und nie mehr zurückkommen würde.

Das ist nur ein Probealarm“, erklärte meine Mutter, „der ist gleich wieder vorbei.“

Als sie mir die Hand reichte, schüttelte ich den Kopf.

Ich würde solange unter dem Tisch sitzen bleiben, bis das Geräusch endgültig verschwunden war.

Es gehorchte meinem Wunsch und verschwand für mich ebenso unvorhersehbar wie es gekommen war. Ich nahm die Finger aus den Ohren und schob mit der linken Hand die Tischdecke vorsichtig zur Seite, um zu sehen, ob meine Mutter in der Nähe war.

Ich sah ihre Beine und den Saum des Kittels, den sie über ihrem Kleid trug, wenn sie in der Küche arbeitete. Die Beine bewegten sich vom Herd am Küchentisch vorbei zu dem Spind neben der Balkontür, wo meine Mutter Gewürze, Mehl und Zucker aufbewahrte.

Ich mochte es, ihr beim Kochen zu helfen und kroch langsam unter dem Tisch hervor.

Doch ich kam nicht dazu, mein sicheres Versteck ganz zu verlassen.

Ohne dass ich mich darauf hätte vorbereiten können, drang plötzlich ein noch viel schlimmeres Geräusch in mein Hören. Es war ein lauter, sich ständig wiederholender Heulton, welcher mich derart erschreckte, dass ich nicht einmal mehr schreien konnte.

Alles in mir war erstarrt.

Selbst das beruhigende Wippen mit dem Oberkörper.

Ich hatte keine Kontrolle mehr über meine Bewegungsabläufe.

Das Einzige, was ich noch spürte, war ein hämmernder Schmerz in meinem Kopf, der mich überrannte und ein Chaos in meinem Innensein verursachte.

Sirene, Sirene, Sirene!“, wiederholte ich die erklärenden Worte meiner Mutter immer und immer wieder in Gedanken, aber sie beruhigten mich nicht.

Sirene, Sirene, Sirene!“

Ich musste mich ganz zurückziehen.

Ganz in mich zurückziehen.

Ganz in mich.

Die Stimme meiner Mutter klang weit entfernt, obwohl ich ihr Gesicht und einen Teil ihres Körpers direkt vor mir sehen konnte.

Ich wusste nicht, wie sie dort hingekommen war, wo sie jetzt hockte und ihre Hand nach mir ausstreckte, während sie Worte sprach, die ich nicht verstand.

Mein Körper war immer noch starr.

Ich konnte ihrer Hand nicht ausweichen, obwohl ich nicht wollte, dass sie mich berührte.

Alles in mir schmerzte.

Ich saß mit verschränkten Armen, die meine angewinkelten Beinen an den Körper gepresst hatten am Ende des Küchentisches direkt an der Wand.

Das Geräusch war nicht mehr da.

Doch ich hatte große Angst, dass es noch einmal zurückkommen würde.

Komm her, die Sirene hat aufgehört.“, wiederholte meine Mutter.

Sirene, Sirene, Sirene!“

Ich wollte diese Wort nie mehr hören. Nie mehr.

Es war ein schreckliches Wort.

Und ein schreckliches Geräusch.

Schreckliches Wort – schreckliches Geräusch.

Schreckliches Wort – schreckliches Geräusch.

Schreckliches Wort – schreckliches Geräusch.

Sirene, Sirene, Sirene!“

Ich erstarre noch heute jedes Mal, wenn Probealarm ist und möchte mich dann am liebsten unter dem Tisch verkriechen.