Einführung:
Zentrale
Kohärenz beschreibt als Oberbegriff die Fähigkeit
•
gestaltmäßig wahrzunehmen
•
kontextbezogen wahrzunehmen und zu denken
•
einen „roten Faden“ zu finden
•
Zusammenhänge zu erkennen und Ideen sinnvoll zu
verknüpfen
Die
Theorie der schwachen zentralen Kohärenz geht als allgemeines
Erklärungsmodell für Autismus auf Uta Frith 1989 zurück. In dieser
Theorie wird autistisches Erleben und Verhalten auf einen
grundsätzlich anderen Wahrnehmungs- und Denkstil bzw. eine andere
Art der Informationsverarbeitung zurückgeführt.
Autistischen
Menschen gelingt es demzufolge nur eingeschränkt, ganzheitlich
wahrzunehmen und Bedeutungszusammenhänge herzustellen. Stattdessen
haben sie eher Stärken bei der detailorientierten Erfassung und
Verarbeitung von Informationen. Menschen mit neurotypischer
Informationsverarbeitung können (im Idealfall) bereits bei der
Wahrnehmung Objekte und Phänomene aller Art kategorisieren und je
nach situativem Kontext flexibel und intuitiv einordnen. Dadurch
gelingt es ihnen leicht, Zusammenhänge zu erkennen und Erkenntnis-
und Entscheidungsprozesse dem jeweiligen Kontext anzupassen.
Bei
schwacher zentraler Kohärenz besteht eher die Tendenz zu einer
gewissen „Kontextblindheit“ mit Schwierigkeiten, angemessen zu
abstrahieren und Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden.
Dafür werden Details und Verbindungen erkannt, die bei starker
zentraler Kohärenz leicht übersehen oder vernachlässigt werden.
Auch
ohne den Anspruch zu erheben, das gesamte Autismus-Phänomen mit der
Theorie der schwachen zentralen Kohärenz erklären zu wollen, finden
sich in den Biographien autistischer Autoren zahlreiche Hinweise auf
diesen „anderen kognitiven Stil“.
5.1.1
Gestalthaft wahrnehmen und denken
Detailwahrnehmung
Sabine Kiefner:
Ich bin Autistin - Asperger Syndrom bei Frauen:
Manchmal sehe ich die Welt durch
einen Fingerkreis
„Was machst du da?“
Ich schaue mir die Blumen an.
„Nein, was du mit den Fingern vor
deinem Gesicht machst?“
Ich schaue mir die Blumen an.
Präziser gesagt, schaue ich mir den
Wegesrand durch einen Fingerkreis an, welchen ich mit Daumen und
Zeigefinger der linken Hand geformt habe und vor mein rechtes Auge
halte.
Ein Ring, der mir die Welt endlich
macht.
Ein bisschen ist das wie fotografieren.
Ich teile mir die Welt in kleine Ausschnitte.
Ausschnitte, die überschaubar sind.
Ausschnitte, die meinen Blick begrenzen.
Aber das soll ein Geheimnis bleiben.
Sie würden es vermutlich sowieso nicht verstehen.
Ich habe viele Geheimnisse.
Die Welt durch einen Fingerkreis zu
sehen ist nur eines von vielen.
Durch den Fingerkreis kann ich Dinge
sehen, die ich sonst nicht sehe.
Die kleinen Walderdbeeren zum Beispiel,
die wir beim Wandern sammeln.
Durch den Fingerkreis entdecke ich sie
in dem vielen Grün am Wegesrand sofort.
Wie bei einem Suchbild, wo es bestimmte
Gegenstände zu finden gilt.
Darin bin ich sehr gut, weil mir jedes
Detail eines Bildes sofort auffällt.
Aber nur, solange dieses überschaubar
ist.
Sobald das Grün auf der rechten oder
linken Seite des Wanderwegs ohne den Blick durch die beiden Finger zu
viel wird, finde ich keine Erdbeere mehr.
Dann sehe ich – wie meine Mutter sagt
– vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr.
Beim Wandern trifft das sogar zu.
Durch die beiden Finger betrachte ich
meist nur den Stamm eines Baumes.
Die Gleichmäßigkeit seines
Rindenmusters gefällt mir.
Gleichzeitig fällt mir auch jede
Abweichung des Musters auf.
Oder ich schaue durch den Fingerkreis
hinauf zu den Baumkronen und entdecke darin jeden Vogel und Zapfen
oder die Stellen, an denen ein Ast oder Zweig abgeknickt ist.
In der Stadt kann ich auf diese Weise
die Straßenschilder und Hausnummern erkennen und die Autokennzeichen
schon von Weitem lesen.
Auch die Schaufensterauslagen betrachte
ich mir oft durch den Fingerkreis.
Zumindest dann, wenn mich niemand dabei
beobachtet.
Bei den Schaufenstern verhindern die
beiden Finger vor dem rechten Auge zusätzlich, dass sich das
Tageslicht zu sehr in dem Glas spiegelt und mich blendet. Meine Augen
sind nämlich sehr lichtempfindlich. Bei zu grellem Licht halte ich
mir die Hände vor die Augen oder kneife die Augen fest zu. Manchmal
fragen mich Menschen dann, warum ich eine solche Grimasse schneide
oder das Gesicht so merkwürdig verziehe, obwohl ich das gar nicht
gemacht habe.
Es war in dem Moment nur zu viel Licht,
das sich wie ein Messer in meine Augen gebohrt hat.
Da ich das Draußen überwiegend durch
den Blick auf den Boden wahrnehme, hilft mir auch dort der
Fingerkreis, Dinge, die am Straßenrand liegen, sofort zu entdecken,
die ich ohne diese Begrenzung nicht sehen würde. Nur bei den
Gehwegplatten brauche ich die Finger nicht.
Sie teilen den Bürgersteig automatisch
in kleine, rechteckige Ausschnitte und machen diesen dadurch
überschaubar, so dass mir jedes Detail darin auffällt.
So, wie ich die Unendlichkeit der Zeit
durch das Zählen eingrenze, grenze ich die Unendlichkeit der Welt
durch zwei Finger ein, die ich zu einem kleinen Kreis forme.
Oder die Unendlichkeit draußen vor der
Tür durch die Begrenzung der Gehwegplatten.
Alles Geheimnisse, von denen niemand
etwas wissen darf.
Denn ich will nicht, dass sie wieder
sagen, ich sei verrückt, weil ich solche Dinge mache, die sonst
niemand macht.
Ich bin nicht verrückt.
Ich sehe die Welt nur manchmal anders.
5.1.2
Kontextbezug
Wichtig und unwichtig
Dr.
Christine Preißmann: Psychotherapie und Beratung bei Menschen mit
Asperger Syndrom, Kohlhammer Verlag:
(....) „Ich…habe mich immer gefragt, was der Grund
dafür sein könnte, dass ich mir keinen Film ansehen kann, bis heute
nicht. In der Schule war dies ein großer Nachteil, denn vor allem in
höheren Klassen wurde die Fähigkeit verlangt, den Inhalt und die
Handlung zu beschreiben und zu analysieren, was mich hoffnungslos
überforderte. Meine Klassenkameraden freuten sich auf die Filme, mir
dagegen waren sie zuwider. Es war mir nicht möglich gewesen,
Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. ich hätte problemlos
beschreiben können, welche Tasse die Hauptperson benutzte, was sie
zum Frühstück aß und an welcher Stelle das Buch, das sie las, ein
Eselsohr hatte. Aber das war leider nicht gefragt. Gefragt waren
zusammenfassende Analysen, die Beziehungen der Darsteller zueinander,
ihre Ziele und Absichten, aber dies zu erkennen war mir nicht möglich
gewesen.“ (S.19)
5.1.3
Abstrahieren
Allgemeine
Rückschlüsse ziehen
Gunilla
Gerland: Ein richtiger Mensch sein, Verlag Freies Geistesleben:
(...) Auch war es für mich nicht selbstverständlich, dass
etwas sich hinter oder unter etwas anderem befinden konnte. Wenn ich
es sah, begriff ich es. Ich verband es aber ausschließlich mit dem,
was ich eben in diesem Moment sah. Hatte ich einen Ball gesehen, der
unter eine Kommode gerollt war, wusste ich, dass Bälle sich unter
Kommoden befinden konnten. Ich verstand auch, dass der Ball dort lag,
obwohl ich ihn nicht sah, und ich konnte soweit verallgemeinern, dass
ich mir sagte, auch andere Bälle könnten von großen Möbeln
verdeckt werden. Diese Erfahrungen konnte ich meinem Wissen über die
Welt hinzufügen und in Zukunft auch anwenden. Aber sie sagten mir
nichts davon, dass außer Bällen auch andere Gegenstände unter der
Kommode liegen konnten, oder dass alles mögliche irgendwo hinter
anderen Sachen landen und unsichtbar werden könnte. (S. 75)
Falsche
Schlüsse ziehen
Gunilla
Gerland: Ein richtiger Mensch sein, Verlag Freies Geistesleben:
(...) Der Musiklehrer war ein kleiner dünner Mann mit Brille,
etwas, das mich sehr verwunderte, weil es so nicht stimmen konnte. Um
das System besser zu verstehen, nach dem die Welt funktionierte,
hatte ich mir eine eigene Brillentheorie geschaffen. Diese Theorie
lief darauf hinaus, dass alle Erwachsenen mit Brille entweder lang
und dünn waren oder klein und dick. Aber nie klein und dünn. Das
Aussehen meines Vaters und eines seiner Arbeitskollegen bildeten die
Grundlage für diese Theorie. (…) Der Musiklehrer machte mir Angst,
weil er eine ganz neue Sorte Mensch darstellte, die nicht in meine
Erfahrungswelt passte. (S.116)
5.1.4
In Bildern denken
Detailfülle in Bildern
Werner
Kelnhofer: Auf einem fremden Planeten:
(...) Da ich vorwiegend in Bildern denke, habe ich
sowieso immer das Problem, von den vielen Details, die so ein Bild
beinhaltet, diejenigen herauszufiltern, die für die jeweilige
Kommunikation wichtig sind. Viele Menschen kennen den Spruch: "Ein
Bild sagt mehr als tausend Worte" - denken aber nicht an den
Umkehrschluss, dass man auch mehr als tausend Worte braucht um ein
Bild zu beschreiben. Wie frustrierend es ist, von all den Bildern,
die ich während eines Gespräches im Kopf habe, immer nur einen
winzig kleinen Teil mitteilen zu können, das können sich diese
Menschen offenbar nicht vorstellen. www.as-tt.de
5.1.5
Stärken bei schwacher zentraler Kohärenz
- Genauigkeit, Perfektionismus
- Gute Beobachtungsgabe
- Blick für Veränderungen
- Gutes Gedächtnis für Einzelheiten
- Ausdauer bei monotonen Aufgaben
Details erkennen
Nicole
Schuster: Ein guter Tag ist ein Tag mit Wirsing, Weidler Buchverlag:
(....) Niemand in der Familie findet so oft wie ich Münzen
auf dem Bürgersteig oder vierblättrige Kleeblätter auf einer
Wiese. Mein Blick für Veränderungen hat Leute schon beeindruckt,
als ich noch ein kleines Kind war. Damals habe ich der Oma Freude
gemacht, da ich ihr sofort sagen konnte, wenn sie etwas Neues
anhatte. Für mich war das wie ein Spiel, ich merkte es ja so oder so
und ohne jede Mühe. Die Oma fühlte sich indes geschmeichelt –
wahrscheinlich dachte sie, dass ich mich für ihre Kleidung besonders
interessieren würde. (S.24)