4 Verhaltensbesonderheiten, 4.2 Interessen

4.2.1 Spezialinteressen



Kennzeichen von Spezialinteressen



Hans Asperger: Heilpädagogik 1965: (...) Diese Fähigkeit des originellen Beobachtens betrifft aber nicht, wacher Aufmerksamkeit, alle Dinge der Umwelt –dann wären die Kinder ja nicht autistisch! -, sondern meist ein eng umgrenztes, isoliertes Sonderinteresse, das geradezu hypertrophisch entwickelt ist. Da ist der eine ein „Naturforscher“ von durchaus wissenschaftlichen Fragestellungen….Manche, die Größeren zumal, finden sich mit Geschicklichkeit und Ausdauer die Literatur, die sie brauchen, und betreiben richtige Quellenstudien;…Ein anderer ist ein Chemiker, der sein ganzes Geld, und wenn er es denn stehlen muss, für Experimente aufwendet, die oft der Schrecken der Umgebung bilden.

Ein anderes Kind hat vor allem technische Interessen, weiß unglaublich viel vom Aufbau komplizierter Maschinen, hat sich durch eingehende Fragen, denen man nicht ausweichen konnte, vor allem aber durch eigene Beobachtungen dieses Wissen verschafft, beschäftigt sich mit phantastischen Erfindungen, wie Weltraumschiffen und ähnlichem (diese Beobachtungen stammen aus den dreißiger und vierziger Jahren, da solche Interessen noch völlig phantastisch waren. Inzwischen ist manches realisiert worden – sollten vielleicht die, welche das schufen, autistische Persönlichkeiten sein? (S.185 / 186)





Autismus und autistische Fähigkeiten

Hajo Seng: autWorker (...) „Besondere und auffällige Fähigkeiten stehen bei Hans Asperger an so prominenter Stelle, dass sie für die Konstitution des Aspergerschen Autismus als wesentlich angesehen werden müssen. Ohne diesen Fokus auf diese ungewöhnlichen Fähigkeiten macht Aspergers Syndrombeschreibung gar keinen Sinn. Ohne den Aspekt besonderer Fähigkeiten ist Autismus schwerlich gegenüber anderen Diagnosen abgrenzbar“

„Die Fähigkeiten, die Hans Asperger als grundlegende Merkmale seiner autistischen Kinder gesehen und als ihre wichtigsten Potentiale erkannt hat, sind in der Wahrnehmung des Autismus nach ihm zu dysfunktionalen, repetetiven und stereotypen Beschäftigungsmustern geworden.“





Erkenntnishunger



Gabrijela Mecky Zaragoza,.: Meine andere Welt; Vandenhoek & Ruprecht, Göttingen 2012 „Am Anfang sieht alles noch ganz harmlos aus, man wird auf ein Thema aufmerksam, man liest einen Text, man bekommt eine Frage gestellt. ... Man findet Geschmack daran und mit dem Geschmack kommt der Hunger. Gut fühlt er sich an, der Hunger nach Erkenntnis, weil er für euphorische Gemütszustände sorgt und das Blut in den Adern pulsieren lässt, doch er hat auch etwas von einem Raubtier an sich, das sich nicht immer an die Kette legen lässt: Er krallt sich in allen Gehirnwindungen fest, manchmal so tief, dass es weh tut, und manchmal so lange, bis man das Gefühl hat, von ihm verschlungen zu werden. Er fordert alles und gibt keine Ruhe, bis man ihm das gewünschte Häppchen Erkenntnis reicht, möglichst druckreif zubereitet auf dem Papier. Wenn mich der Forschungshunger packt, bin ich Jagende und Gejagte zugleich.“ S. 133







4.2.2 Andere Interessen



Anders spielen



Dr. Christine Preißmann: ..und dass jeden Tag Weihnachten wär. Weidler Buchverlag: (...) Ich habe noch nie verstehen können, weshalb man Puppen entwickelt, die sich nass machen oder die einzelne Worte sprechen können. So eine Zeitverschwendung! Weshalb sollte ich eine Puppe wickeln wollen? Sie bleibt doch eine Puppe! Und weshalb schaukeln viele Mädchen eine Puppe im Arm, wo sie doch leblos ist und noch dazu hart und aus Plastik? Das will mir nicht in den Kopf hinein. Aber dieses „so tun als ob“-Spiel war noch nie etwas für mich. Darin habe ich keinen Sinn gesehen. Heute weiß ich natürlich, dass andere Kinder bei diesen Spielen eine Menge gelernt haben und sie durchaus ihren Sinn haben. Ich selbst musste mir diese Dinge auf andere Weise mühsam aneignen, während die meisten Kinder sie ganz spielerisch und quasi nebenbei gelernt haben. (S.72)





Anders lesen



Dr. Christine Preißmann: ..und dass jeden Tag Weihnachten wär. Weidler Buchverlag: (...) Es ist sehr schwer für mich, ein Buch zu lesen. Sachbücher mag ich gern, habe mir auch als Kind und im Jugendalter oft Technik-, Bastel- und andere Sachbücher in der Bibliothek ausgeliehen…Was ich dagegen nicht mochte, waren die sogenannten Jugendbücher, also Romane, die von Pferden, Freundschaften und ähnlichen Dingen handelten, mit denen ich nichts anfangen konnte. Ich konnte diese Bücher nicht im Zusammenhang verstehen, der Handlung nicht folgen und sah daher keinen Sinn darin, sie zu lesen. Ich saß lange vor ihnen und starrte auf den Text, musste ihn wieder und wieder lesen, ohne dass ich ihn jedoch verstanden hätte….Mittlerweile weiß ich, dass viele Menschen mit einer autistischen Störung dieses Problem haben, auch deshalb, weil sie sich an irgendwelchen Details aufhalten und deshalb den Zusammenhang nicht verstehen können. (S.80)







4.2.3 Objektbezug



Der 'Fetisch'

Hans Asperger: Heilpädagogik 1965: (...) Auch die Beziehungen zu den Dingen können abartig sein. Während dem normalen Kind, besonders dem Kleinkind, die Dinge förmlich lebendig werden, weil es sie durch seine guten Beziehungen zu ihnen mit seinem eigenen Leben erfüllt, während es sich an den Dingen heranbildet, an ihnen seine Erfahrungen sammelt, seine Liebe an sie hängt – sind die autistischen Kinder auch darin gestört. Entweder sie nehmen die Dinge der Umwelt überhaupt nicht zur Kenntnis, nehmen etwa an Spielsachen gar keinen Anteil, oder aber sie haben an bestimmte Einzeldinge eine abwegig feste Bindung, lassen eine Peitsche, einen Holzklotz, eine nur mehr rudimentäre Puppe keinen Moment aus den Augen, können nicht essen, nicht schlafen gehen, wenn der „Fetisch“ nicht bei ihnen ist, machen schwerste Szenen bei dem Versuch, ihnen dieses Ding zu entziehen. (S.192)





Freundschaft mit Dingen



Hugin: Ich schließe Freundschaft mit Dingen, die mich glücklich machen. Selten nur schließe ich Freundschaft mit Menschen. Dinge sind verlässlicher, sie ändern sich nicht, bleiben gleich. Menschen wollen immer etwas von einem, Dinge nicht. Dinge sind zufrieden mit ihrem Dasein, sie meckern nicht, zwingen einen nicht zur Konversation oder zu sonst einer Interaktion und bleiben dadurch immer berechenbar. Denn sie sind wie sie sind. Keine Überraschungen. Für Außenstehende mag mein Umgang mit Dingen einen Charakter von „Fetisch“ haben, doch für mich hat das „Ding“ einen Charakter von Verlässlichkeit. Und darum mag ich "Dinge", darum entwickle ich eine emotionale Bindung zu ihnen und darum halte ich an ihnen auch fest.