5 Denken, 5.2 Exekutive Funktionen



Unter dem Begriff der exekutiven Funktionen sind in der Neuropsychologie mentale Prozesse zusammengefasst, die es einer Person erlauben, ihr Handeln zielgerichtet zu planen und zu koordinieren. Dazu zählen vor allem folgende Fähigkeiten:

  • Handlungen vorausschauend planen und umsetzen
  • Teilschritte sinnvoll aufeinander abstimmen
  • Teilschritte und deren Konsequenzen gedanklich vorwegnehmen
  • Handlung in Gang setzen
  • Handlungen an veränderte Umstände (flexibel) anpassen
  • Zeitmanagement und Prioritätensetzung
  • drängende, aber störende Impulse unterdrücken können



Am Beispiel eines Wochen-Familien-Einkaufs in einem Lebensmittel-Supermarkt kann man anschaulich konkretisieren, welche Aufgaben mit exekutiven Funktionen bewältigt werden und welche Probleme dabei entstehen können.

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Viele autistische Menschen leiden unter beeinträchtigten Exekutivfunktionen. Dabei erweisen sich besonders folgende Aspekte als problematisch:



  • Erschwerte Handlungsplanung
  • Probleme mit der Vielschrittigkeit von Aktivitäten (Anfang, Abfolge, Ende)
  • Handlungsblockaden
  • begrenztes Arbeitsgedächtnis
  • Schwierigkeit mit dem Konzept von Zeit
  • Schwierigkeiten bei Situationsübergängen
  • (sehr) begrenzte Flexibilität bei Störungen oder Abweichungen vom Erwarteten
  • Ablenkbarkeit von äußeren Reizen, Gestörte Impulskontrolle



Als Bewältigungsstrategie dienen häufig gewohnte Routinen bei wiederkehrenden Aufgaben und Situationen oder Beibehaltung von stark individuellen Lösungsstrategien mit Resistenz gegenüber Abweichungen und flexiblem Handeln.







5.2.1 Handlungsplanung



Erschwerte Handlungsplanung



Gunilla Gerland: Ein richtiger Mensch sein, Verlag Freies Geistesleben: (…) zum Beispiel als meine Mutter und Kerstin mir beibringen wollten, unsere Waschmaschine zu bedienen. Sie erklärten, und ich sah zu. Sie erklärten es immer wieder. Aber als ich es anschließend selbst versuchen sollte, konnte ich es nicht. Die Knöpfe auf der Maschine sahen alle gleich aus, und ich konnte mir ihre Funktionen nicht merken. Meine Mutter und Kerstin waren der Ansicht, sie hätten es mir jetzt so oft gesagt, weil öfter als ich es nötig hätte. Viel öfter als überhaupt jemand es nötig haben könnte. Und weil sie die Wahrheit gepachtet hatten, entschieden sie, nur meine Faulheit sei schuld daran, dass ich keine Lust habe, den Umgang mit der Waschmaschine zu lernen, ich wolle mich natürlich nur von anderen bedienen lassen. (S.159)







Nicole Schuster: Ein guter Tag ist ein Tag mit Wirsing, Weidler Buchverlag: (....) Das Planen ist für mich allerdings keine einfache Sache. Die Gedanken um den Ablauf eines einfachen Treffens kreiseln Stunden über Stunden in meinem Kopf. Manchmal sind mir die naheliegensten Lösungen fern. Oder ich verliere mich in Kleinigkeiten und übersehe andere Aspekte. So suchte ich zum Beispiel beflissentlich den günstigsten Flug raus, als ich eine Autismus-Konferenz in Cambridge besuchen wollte, und überlegte erst danach, ob ich überhaupt den richtigen Zielflughafen gewählt hatte. (S.255)







5.2.2 Arbeitsgedächtnis







5.2.3 Flexibilität



Stress beim Abweichen vom Erwarteten



Dr. Christine Preißmann: Psychotherapie und Beratung bei Menschen mit Asperger Syndrom, Kohlhammer Verlag: (....) Auch mir gelingt es natürlich nicht immer, meinen Tagesablauf exakt vorherzuplanen, und dies stellt mich und die Menschen, mit denen ich zu tun habe, immer wieder auf eine harte Probe. Wenn ich mich beispielsweise für ein bestimmtes Brötchen zum Mittag entscheide und die Bäckerei, die ich ansteuere, diese Sorte gerade nicht vorrätig hat, dann kann es durchaus passieren, dass ich anfange, die Verkäuferin deshalb zu beschimpfen. Das tut mir hinterher wahnsinnig leid, ich schäme mich dafür und gebe mir große Mühe, mich besser unter Kontrolle zu haben.







5.2.4 Handlungsblockaden



Sich nicht entscheiden können



Dr. Christine Preißmann: ..und dass jeden Tag Weihnachten wär. Weidler Buchverlag: (...) Es gibt kaum etwas, das ähnlich schlimm ist wie Schuhe kaufen zu müssen. Gemeinsam mit meiner Mutter, die mir zum Glück beim Aussuchen hilft, finde ich nach einiger Zeit des Suchens meist irgendeinen Schuh, der mir gefällt. Wenn ich ihn dann anprobiere, passt er oft nicht so besonders gut, oder aber er ist in meiner Schuhgröße nicht mehr vorhanden. Dann beginnt der Albtraum. Die Verkäuferin bringt Unmengen anderer Schuhe herbei, die so ähnlich sein sollen wie der, den ich mir ausgesucht hatte. Aber meistens gefallen sie mir alle nicht, oder sie passen nicht. Die Verkäuferin versucht dann natürlich jeweils, mir irgend ein Paar schmackhaft zu machen und erklärt, diese Schuhe sähen an mir ganz besonders gut aus. Aber die Worte erreichen mich nicht, und ich weiß ja auch, dass sie sowieso meist nicht ernst gemeint sind. Irgendwann sitze ich inmitten all dieser Schuhe und kann nicht mehr, will nur noch weg.. Es ist jedes Mal dasselbe. Ich kann nicht verstehen, dass andere Frauen gern Schuhe kaufen gehen. (S.82)





5.2.4 Impulskontrolle







5.2.5 Zeitgefühl



Probleme mit ungenauen Zeitangaben

Susanne Schäfer: Sterne, Äpfel und rundes Glas, Verlag Freies Geistesleben: (...) Nun hatte sich auch noch der Klempner angesagt, denn der Wasserhahn in meiner Dusche war undicht geworden und sollte repariert werden. Dazu hätte er natürlich durch mein Zimmer gemusst. Was, wenn er so früh käme, dass er noch während meiner empfindlichsten Stunden des Tages durch mein Zimmer ginge?! Ich fragte verzweifelt die Mutter, immer und immer wieder, an welchem Tag und zu welcher Stunde der Klempner kommen würde, bekam aber nur zur Antwort: „an irgendeinem Vormittag im Laufe der nächsten Woche.“ Ich hasse unpräzise Zeitangaben. Es ist sowieso schon schwierig genug, sich Zeiträume vorzustellen! Es war furchtbar, jeden Tag mit dem Gedanken zu beginnen: Vielleicht kommt heute der Klempner, vielleicht nicht – und dann geht es morgen wieder so los!“ Ich hasse das Wort „vielleicht“! S.93





Zeitmanagement



Sabine Kiefner: Ich bin Autistin - Asperger Syndrom bei Frauen:

 Greifbare Zeit


Seit gestern hängt ein gelbes Zentimetermaß an der Wand im Flur neben meinem Wochenplan.

Zurechtgeschnitten auf die verbleibenden Tage bis zum Ende der Nähelosigkeit.

Sichtbar gemachte, messbare Zeit.

46 Zentimeter lang.

Ein Zentimeter für jeden Tag.

Ein Zentimeter, der am jedem Morgen abgeschnitten wird.

Jeder Zentimeter mit einer Zahl versehen, welche die Anzahl der Tage anzeigt, die ich noch warten muss und die jeden Tag kleiner wird.

Ein visuelles Rückwärtszählen.

Dieses schmale, gelbe Band macht das Warten (be)greifbar.

Ich kann die Zeit mit einem einzigen Blick erfassen.

Und ich kann sie anfassen, einfach mit den Fingern berühren.

In der Hand fühlt sie sich viel kürzer an als in meiner Vorstellung.

Sie ist endlich geworden.

Jedes Mal, wenn ich vom Wohnzimmer aus in die Küche gehe, bleibe ich einen Moment im Flur stehen und lasse das Ende des Zentimetermaßes durch meine Finger gleiten.

Immer und immer wieder.

Ich mag dieses Gefühl, Zeit (be)greifen zu können.

Das konkrete Wahrnehmen-Können macht mir das Warten erträglicher.

Jetzt habe ich etwas, woran ich mich festhalten kann.

Etwas, das mir Sicherheit gibt.

Etwas, das die Zeit des Wartens eingrenzt.

Und die Zeit der Nähelosigkeit, die so schwer auszuhalten ist.