4 Verhaltensbesonderheiten, 4.1 Routinen und Rituale


4.1.1 Beharren auf Routinen

Rituale
Sabine Kiefner: Ich bin Autistin - Asperger Syndrom bei Frauen:

Gehwegplattenschön


Komm bitte, ich habe jetzt keine Zeit dafür.“
„Dafür“ ist meine Art und Weise, wie ich den Weg vom Bäcker zurück nach Hause über die Gehwegplatten laufe, ohne auf die schmalen Zwischenräume zu treten, welche jede einzelne Platte an allen vier Seiten begrenzen.
„Dafür“ bedeutet auch, dass ich den Weg von vorne beginnen muss, wenn ich versehentlich doch eine der Linien mit den Schuhen berührt habe.
Meine Mutter weiß nicht, wie wichtig es für mich ist, diese Regel einzuhalten.
Sie denkt, es sei lediglich ein Spiel.
Beeil dich bitte.“
Ich muss noch einmal zurück.
Ganz deutlich habe ich gesehen, dass ich mit dem rechten Fuß einige Zentimeter auf dem Zwischenraum gestanden habe. Die gerade Linie war durch die Spitze meines Schuhs getrennt worden. Ich spüre sofort, wie alles in mir zu rennen beginnt.
Meine Hände können kaum noch stillhalten.
Durch sie gelangt das Rennen in mir nach Außen, wenn der Druck zu groß wird.
Und der Druck ist groß – sehr groß – wenn das Gehwegplattenmuster durch einen falschen Schritt zerstört worden ist. Wenn sie mich jetzt nicht von vorne beginnen lässt, wird das Rennen in mir nicht aufhören.
Ich muss zurücklaufen bis zu der Stelle, wo das Gehwegplattenmuster durch eine Querstrasse unterbrochen ist und am Bordstein neu beginnt.
Die ersten Schritte sind gar nicht so einfach, weil die Hände nicht stillhalten wollen.
Aber dann ist der Rhythmus wieder da und es ist ein schönes Gefühl, meinen Füßen zuzusehen, wie sie immer abwechselnd auf eine Gehwegplatte treten, ohne den Rand zu berühren, auch, wenn ich dafür ganz große Schritte machen muss, weil die Platten noch viel zu groß für meine Füße sind.
Meine Mutter hat ihren Einkaufskorb auf dem Boden abgestellt und spricht mit Frau H., unserer Nachbarin, die im Haus nebenan wohnt.
Dafür hat sie jetzt Zeit. Nur für meine Gehwegplatten nicht.
Aber ich werde nicht protestieren.
Solange sie mit Frau H. spricht, kann ich mich dem Muster der Platten vor dem Hauseingang widmen, welches sich von jenem des Gehweges unterscheidet.
In dem kurzen Stück von der Hecke bis zur Haustür sind die Platten immer versetzt angeordnet, so dass ich hüpfen muss, um nicht auf die Zwischenräume zu treten.
Das ist viel schwieriger und verlangt eine hohe Konzentration.
Vor allen Dingen, wenn jemand gerade in dem Moment das Haus verlässt und mir auf dem schmalen Weg entgegenkommt. Dann gelingt es mir nur selten, die Balance zu halten und den Füßen der Person auszuweichen, die nicht auf das Muster der Gehwegplatten achtet, sondern einfach geradeaus geht und auf die Plattenzwischenräume tritt.
Manche Kinder, die bei uns im Haus wohnen, machen sofort mit, wenn sie mich dabei beobachten, wie ich hin und her hüpfe, um beim Gehen nur die Platten zu betreten.
Für sie ist es ein Spiel und sie lachen oder lassen sich fallen, wenn sie auf die Zwischenräume treten. Das begreife ich nicht. In mir ist kein Lachgefühl, wenn mein Fuß eine der schmalen, dunklen Linien übertritt. Es macht mich wütend, weil es nicht sein darf und weil es offensichtlich niemand außer mir ernst nimmt.
Ich mag sie nicht, diese Missachtung des Gehwegplattenmusters.
Selbst meiner Mutter scheint es nichts auszumachen, dass sie ständig auf die Zwischenräume tritt.
Mama, pass doch auf, du darfst nicht auf die Linien treten!“
Aber sie passt nicht auf.
Jetzt, wo sie das Gespräch mit Frau H. beendet hat, ist sie wieder in Eile und achtet nicht darauf, dass sie mit ihren Schuhen ständig über die dunklen Erdstriche zwischen den Platten läuft.
Komm jetzt.“, sagt sie zu mir, während sie die Haustür aufschließt und im Treppenhaus ungeduldig auf mich wartet.
Noch zwei Reihen, dann habe ich es geschafft, auch, wenn ich ein paar Mal von vorne beginnen muss, weil ich mein Gleichgewicht nicht halten kann.
Ich bin schon ganz aufgeregt.
Als ich im Treppenhaus neben meiner Mutter stehe, klatsche ich in die Hände und fange an, mich im Kreis zu drehen.
Heute ist ein schöner Tag.
Ein gehwegplattenschöner Tag.


4.1.2 Widerstand gegen Veränderungen

Sabine Kiefner: Ich bin Autistin - Asperger Syndrom bei Frauen:

Parkplatzroutine


Ich muss auf den Dachparkplatz fahren.“
Er lacht. Ich weiß nicht, ob er über mich lacht oder nur darüber, dass ich ihn auf dem Parkplatz habe stehen lassen.
Für ihn ist Parkplatz gleich Parkplatz – für mich nicht.
Ich muss immer den gleichen Eingang vom Dachparkplatz aus in das Einkaufszentrum benutzen, um mich darin zurechtfinden zu können.
Deshalb bin ich an ihm vorbei hinauf auf das obere Parkdeck gefahren.
Ich parke immer dort. Auch an einem verkaufsoffenen Sonntag.
Da mache ich keine Ausnahme, auch wenn der Besuch des Einkaufszentrums an einem verkaufsoffenen Sonntag an sich schon eine Ausnahme ist, weil er von der Routine abweicht. Aber darauf hatte ich mich vorbereiten können, weil der Termin seit zwei Wochen feststand und ich ihn in unseren Wochenplan in der Diele eingetragen hatte.
Dass er nicht auf dem Dachparkplatz parken würde, hatte er mir nicht gesagt, als wir vor zwanzig Minuten gemeinsam losgefahren waren.
Das habe ich ganz spontan entschieden.“
Ich entscheide nichts spontan.
Spontaneität verunsichert mich, weil sie alles Handeln unvorhersehbar macht.
Und weil sie Veränderungen herbeiführt, auf die ich mich so schnell nicht einstellen kann.
Kannst du dir vorstellen, wie ich geguckt habe, als du einfach an mir vorbeigefahren bist?“
Nein, das kann ich nicht – mir vorstellen, was er gedacht hat, als ich an ihm vorbei gefahren bin. Ich kenne seine Gedanken nicht.
Ich habe gedacht, du hättest es dir anders überlegt und wärst nach Hause gefahren.“
Warum sollte ich das tun?
Ich halte Termine immer ein oder sage sie rechtzeitig ab, nicht kurzfristig, weil ich es mir während einer 10-minütigen Autofahrt anders überlegt habe.
Dazu brauche ich viel länger. Zehn Minuten reichen nicht aus, um eine Entscheidung zu treffen, welche den gesamten Tagesablauf verändern würde.
Veränderungen lösen eine große innere Unruhe in mir aus.
Wie in dem Moment, als er nicht den gewohnten Weg hinauf auf den Dachparkplatz genommen hatte , sondern eine Ausfahrt früher als sonst rechts abgebogen war.
Ich muss auf den Dachparkplatz fahren.“
Das war mein einziger Gedanke, als ich an ihm vorbei wieder Richtung Ausfahrt gefahren bin.
Du hättest zumindest anhalten und Bescheid sagen können, wo du hinfährst.“
Ich war nicht in der Lage anzuhalten, weil mir dort, wo er parkte, alles fremd war.
Fremd und beängstigend. Niemals hätte ich mein Auto wiedergefunden, wären wir von dort aus in das Einkaufszentrum gegangen.
Ich musste zuerst den Dachparkplatz finden.
Nur von oben kenne ich den Weg durch das Einkaufszentrum, der in meinem Kopf abgespeichert ist. Wir nehmen immer die gleiche Strecke vom Eingang der Spielwarenabteilung die Rolltreppe zwei Etagen hinunter zuerst in das Café, wo er einen Kaffee bestellt, mein Sohn eine Limonade ohne Eiswürfel und ich einen Latte Macchiato.
Er kann diesen Ablauf nicht ändern, nur weil er ausnahmsweise einmal woanders parkt.
Als ich mit meinem Sohn von unserem gewohnten Parkplatz aus den Eingang Spielwarenabteilung erreiche, wartet er dort schon auf uns.
Das kann doch nicht wahr sein, dass du tatsächlich an mir vorbeigefahren bist, nur um hier oben zu parken.“
Doch, das ist wahr.
Ich muss auf den Dachparkplatz fahren.
Jedes Mal.


4.1.3 Stereotype Verhaltensweisen



4.1.4 Ordnen und Zählen

Dem Chaos entgegen wirken

Susanne Schäfer: Sterne, Äpfel und rundes Glas, Verlag Freies Geistesleben: (...) Der „Mathe-Lehrstoff“ der 1. Klasse beinhaltete die Mengenlehre, und beim Sortieren von den kleinen Übungsplättchen nach Farbe, Form und Größe war ich ja voll in meinem Element. Kleine Dinge ordnen, das habe ich mein Leben lang zum Überleben gebraucht. Geordnete kleine Dinge wirken dem Chaos im Großen entgegen. Wenn ich meine kleinen Details kontrolliere, dann ist es nicht ganz so schlimm, dass ich das Gesamte nicht überblicken kann. (S.38/39)



Sabine Kiefner: Ich bin Autistin - Asperger Syndrom bei Frauen:

Knopfdosentag


Heute ist ein schöner Tag.
Ein Tag zum Sortieren und Zählen.
Ich darf die Knopfdose meiner Mutter haben.
Aufgeregt hüpfe ich von einem Bein auf das andere, bis ich die runde Blechdose, auf deren Deckel verschiedene Kekse abgebildet sind, in beiden Händen halte.
Es ist der schönste Moment, wenn ich die Dose endlich geöffnet habe und deren Inhalt vorsichtig auf den Teppichboden schütten kann.
Meine Lieblingsknöpfe entdecke ich sofort und fische sie glücklich mit den Fingern aus der Menge heraus. Es sind fünf große, schimmernd graue Perlmuttknöpfe mit zwei Löchern, die einmal zu einem Mantel meiner Mutter gehört haben, bis sie einen davon verlor und die ursprünglich sechs Knöpfe durch neue ersetzen musste.
Obwohl ich genau weiß, wie viele Knöpfe es sind, zähle ich jedes Mal nach.
Eins – zwei – drei – vier – fünf.
Ich mag das Gefühl, in kreisenden Bewegungen mit meinem Daumen über die Oberfläche eines jeden Knopfes zu reiben und zuzuschauen, wie sich das Perlmuttschimmern mit jeder Bewegung verändert.
Nach den Perlmuttknöpfen sind die dunkelbraunen Lederknöpfe an der Reihe.
Davon gibt es nur drei. Sie gehörten einmal zu einem Jackenkleid meiner Mutter.
Ihre Oberfläche ist durch unregelmäßige Längs- und Querlinien in vier verschieden große Viertel geteilt. Das Besondere an diesen Knöpfen ist ihr Geruch.
Jeden einzelnen halte ich einige Sekunden an meine Nase, um sie im Anschluss daran zu zählen. Eins – zwei – drei.
Es ist wichtig, sie zu zählen. Jede Knopfart hat ihre ganz spezielle Zahl.
Auch die kleinen, weißen Schimmerkugelknöpfchen von meinem Babyjäckchen.
Ihnen gehört die „Acht“, so, wie den Hornknöpfen vom Mantel meines Vaters die „Sechs“ gehört.
Alle müssen der Reihe nach sortiert, gezählt und in Reihen nebeneinander auf den Boden gelegt werden. Ich kenne die genaue Anzahl einer jeden Knopfart und freue mich beim Zählen über jede Übereinstimmung.
Es fällt mir nicht schwer, die jeweils zusammengehörenden Knöpfe in der Menge zu finden. Dafür habe ich einen besonderen Blick, sagt meine Mutter.
Ich würde sie auch mit geschlossenen Augen sortieren können, weil sich jeder Knopf anders anfühlt. Nur bei den Hemdknöpfen wäre das schwierig, weil sie sich nur minimal in ihrer Größe oder der Anzahl der Löcher unterscheiden. Die verschiedenen Farbschattierungen zwischen Weiß, Beige und Grau lassen sich nicht ertasten. Außerdem variiert ihre Anzahl beinahe jedes Mal, da immer wieder neue hinzukommen oder vorhandene von meiner Mutter gebraucht werden, wenn mein Vater wieder einmal einen Knopf an einem seiner zahlreichen Oberhemden verloren hat. Das verunsichert mich beim Zählen.
Hemdknöpfe haben keine feste Zahl.
Ich muss sie wiederholt zählen, um sicher zu gehen, dass ich mich nicht verzählt habe. Daher bleiben die Hemdknöpfe immer bis zum Schluss übrig.
Das Zählen und Sortieren erfolgt jedes Mal auf die gleiche Art und Weise.
Niemand darf mich dabei stören oder den Ablauf unterbrechen.
Ich muss alle Knöpfe zählen und nach Form und Farbe geordnet auf dem Teppichboden anordnen. Es ist ein wunderbares Gefühl, wenn ich fertig bin mit dem Zählen und weiß, dass – mit Ausnahme bei den Hemdknöpfen – kein einziger Knopf fehlt.
Am meisten freuen sich meine Hände. Sie klatschen und wedeln wild in der Luft herum.
Ich kann sie nicht stillhalten, wenn ich so aufgeregt bin.
Und Knöpfe zählen ist aufregend.
Sehr aufregend.
Am liebsten würde ich gleich noch einmal von vorne beginnen.



4.1.5 autistische Beruhigung

Dr. Christine Preißmann: ..und dass jeden Tag Weihnachten wär. Weidler Buchverlag: (...) Beruhigen kann ich mich auch mit Mustern. Ich bekomme in schwierigen Situationen ein bisschen Sicherheit, wenn ich auf ein Muster starre. Das kann ein gemusterter Teppich oder ein Kissen oder eine Tapete sein. Wenn ich gerade im Gespräch war, ist es in diesen Situationen oft so, dass ich dann „woanders“ bin, mich in Gedanken verliere, einfach „wegdrifte“. Ohne diese Möglichkeit hätte ich in vielen Situationen keine Chance, sie wären für mich unerträglich. S 71