1.2.1
Möglichkeiten der Diagnose
1.2.2
Diagnose-Erfahrungen
Diagnose als Befreiung
Sabine
Kiefner: Ich bin Autistin - Asperger Syndrom bei Frauen:
Ich –eine Autistin?
Niemals.
Abwehr – das war vor
zwei Jahren meine unmittelbare Reaktion auf den ersten in einem
Gespräch geäußerten Verdacht.
Doch der Gedanke setzt
sich in meinem Kopf fest. Gibt dieses Wort „Autismus“ meinem
Anderssein nach 47 Jahren endlich einen Namen? Ist es das, wonach ich
seit meiner Kindheit bisher vergeblich gesucht habe? Ein einziges
Wort, als Erklärung dafür, dass ich zu keinem Zeitpunkt in meinem
bisherigen Leben verrückt, sondern lediglich autistisch gewesen bin?
Je intensiver ich mich mit meiner Vergangenheit auseinandersetze,
desto dringender wird der Wunsch danach, endlich Gewissheit zu haben.
Nach zahlreichen Tests und ausgefüllten Fragebögen zähle ich am
Ende die Stunden bis zu meinem Diagnosetermin.
Ich zähle gerne. Zählen
macht das Warten erträglicher, weil es die Zeit eingrenzt.
„Sie haben das
Asperger-Syndrom.“
Immer und immer wieder
spreche ich diesen Satz leise vor mich hin. Ich bin so erleichtert,
dass ich meine Hände kaum stillhalten kann. Endlich weiß ich, wer
ich bin. Ich werde mich nicht mehr verstecken, nicht mehr jeden
Morgen in die Rolle eines Menschen schlüpfen müssen, der ich nie
war, nur um nicht aufzufallen. Ich darf endlich Ich sein. Mein
Innensein wird diesen Kokon endlich verlassen können, der mich immer
vor dem Außen beschützt hat. Ich werde frei sein, mich nie mehr
selbst verleugnen müssen.
„Du warst aber doch
früher nicht so.“ Ich zu sein bedeutet plötzlich auch, meinem
vertrauten Umfeld fremd zu sein. Das Anderssein existiert nun nicht
mehr nur in meinem Innensein, sondern auch in der Außensicht. Es
wird offensichtlich und führt zu einem ständigen Missverstehen.
Daraus resultierend ziehe
ich mich immer häufiger zurück in den schützenden Kokon meines
Innenseins. Nur dort kann ich sein, wer ich wirklich bin, ohne mich
erklären oder ständig anpassen zu müssen. An die Stelle der
Erleichterung unmittelbar nach der Diagnose ist eine Erschöpfung
getreten. Der Alltag überfordert mich. Mir wird bewusst, wie viel
Kraft die jahrelange Anpassung gekostet hat. Mein Verhalten wird
autistischer als es je zuvor war.
Ich brauche
Unterstützung, weil es Dinge gibt, die ich alleine nicht schaffe –
eine Entscheidung, die mir nicht leicht fällt und die von meinem
Umfeld überwiegend mit Skepsis und Unverständnis zur Kenntnis
genommen wird. Schließlich sei ich doch bisher auch ohne Hilfe
zurechtgekommen. Das stimmt nur bedingt. Ohne die ständige
Unterstützung meiner Eltern, die mir die notwendige Sicherheit
gegeben hat, wäre ich sicher schon viel früher an meine Grenzen
gestoßen und an der Bewältigung alltäglicher Aufgaben gescheitert.
Der Autismus schränkt
mich ein.
Das macht ihn zu einer
großen Herausforderung, der ich mich jeden Tag neu stellen muss. Ich
kann ihn nicht einfach einmal für ein paar Stunden ablegen wie ein
Kleidungsstück. Aber das will ich auch gar nicht.
Durch die Diagnose habe
ich endlich eine Identität bekommen – mein autistisches Ich,
welches so lange tief in mir versteckt war und nicht sein dürfte,
weil es damals keine Erklärung dafür gab. Heute will es oft mit
einer solchen Vehemenz aus mir heraus, dass ich es nicht aufhalten
kann und es mich einfach überrennt. Dann lasse ich es zu.
Ich verstecke mich nicht
mehr.
Ich bin Autistin und ich
bin froh, endlich Ich sein zu können.